Kolonialismus: Das Beispiel Afrika

Kolonialismus: Das Beispiel Afrika
Kolonialismus: Das Beispiel Afrika
 
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 Entstehung des deutschen Kolonialreichs
 
Die deutsche Kolonialexpansion in den Achtzigerjahren und ihre Fortsetzung in der »Weltpolitik« seit den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts sind eingebettet in einen beinahe fünf Jahrhunderte währenden komplexen Prozess frühneuzeitlicher Expansion, der die Kontinuität und die Einheit der westlichen Kolonialgeschichte unterstreicht. Allerdings sind die vereinzelten Bemühungen um die Begründung deutscher Kolonialgebiete in der »Neuen Welt« im Gefolge der spanisch-portugiesischen Conquista ebenso ergebnislos geblieben wie die Kolonialpläne und Kolonialgründungen im 17. und 18. Jahrhundert. Erst in den 1840er-Jahren setzte eine Welle kolonialer Begeisterung ein, die vornehmlich von liberalen Bürgerlichen und Demokraten ausging und die nunmehr ein Zeitalter planmäßiger deutscher Kolonialversuche und Koloniegründungen einleitete. Handelsinteresse und die Furcht, die eigene Nation komme bei einer fortschreitenden Aufteilung der Welt zu kurz, aber auch erste »Weltmachtträume« lagen den Plädoyers zugrunde, die Anspruch auf »Seegeltung« erhoben und die Notwendigkeit einer starken Flotte sowie großer deutscher Kolonien in Übersee behaupteten.
 
Ein »deutsches Indien« in Afrika
 
Markiert wird der Beginn der deutschen Kolonialerwerbungen durch die Erklärung des Reichsschutzes über die Erwerbungen des Bremer Tabakwarenhändlers Franz Adolf Eduard Lüderitz in Südwestafrika am 24. April 1884. Insgesamt hatte Lüderitz ein Gebiet von 580000 km2 mit etwa 200000 Einwohnern erworben, das sich vom portugiesischen Kunene bis zum kapholländischen Oranje unter Ausschluss der britischen Walfischbai erstreckte. Mit dem deutsch-britischen Kolonialausgleich vom 1. Juli 1890 im Helgoland-Sansibar-Vertrag kam noch der Caprivi-Zipfel hinzu, der die Kolonie im äußersten Nordosten unmittelbar mit dem in seiner Bedeutung für den Verkehr überschätzten Fluss Sambesi verband.
 
Nach Südwestafrika gelangten Togo und Kamerun unter offiziellen Reichsschutz. Bereits in den 1870er-Jahren hatten hanseatische Handelshäuser an der westafrikanischen Küste neben den britischen Firmen eine führende Position erworben. Am 14. Juli 1884 übernahm das Reich durch seinen Sonderbeauftragten Gustav Nachtigal die Schutzherrschaft über das Gebiet am Kamerunfluss. Zuvor, am 5. und 6. Juli, hatte der Reichskommissar »zur Sicherstellung des nicht unbeträchtlichen deutschen Handels« das Togogebiet bei Bagida und Lome ohne besondere Instruktionen unter kaiserlichen Schutz gestellt.
 
In Ostafrika verfolgten erst Carl Peters und seine Freunde konkrete »territoriale« Absichten: Im Auftrag der Gesellschaft für deutsche Kolonisation schufen sie in einem gewagten Konquistadorenzug die Grundlage für die spätere Kolonie Deutsch-Ostafrika. Innerhalb weniger Wochen schloss Peters gegen geringfügige Geschenke und wertlose Versprechen mit den lokalen Herrschern in Usagara »Verträge« und erwarb ein Gebiet von insgesamt 140000 km2. Schon am 27. Februar 1885 erhielt er den kaiserlichen Schutzbrief. Im Helgoland-Sansibar-Vertrag wurde dann der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft die vom Sultanat Sansibar kontrollierte, bisher gepachtete Festlandsküste gegen Zahlung einer Entschädigungssumme von 4 Millionen Mark an den Sultan überlassen, die Inseln Sansibar und Pemba zum britischen Protektorat erklärt, und im Gegenzug Helgoland von Großbritannien an das Reich abgetreten. Gleichzeitig verzichtete Deutschland — zum Leidwesen der kolonialchauvinistischen Alldeutschen — auf alle Ansprüche, die möglicherweise noch gegenüber dem Sultanat Suaheli (Witu-Tana-Gebiet), gegenüber Somaliland und Uganda bestanden.
 
Das deutsche Südseeimperium
 
Im gleichen Zeitraum, in dem das Deutsche Reich seine afrikanischen Kolonien erwarb, entstand auch der Grundstock seines Südseeimperiums. Im Herbst 1884 schloss der Forschungsagent des Neuguinea-Konsortiums, Otto Finsch, mehrere Verträge ab, durch die sich die Berliner Gesellschaft ein Gebiet von mehr als 200000 km2 sicherte. Ohne Schwierigkeiten gelangten im November 1884 auch die »unbestritten herrenlosen« mikronesischen Marshallinseln, einschließlich der Providence- und Browninseln, die heutigen Atolle Ujelang und Eniwetok, in die deutsche Schutzsphäre. Im April 1885 wurde der Nordosten Neuguineas zusammen mit Neu-Britannien als das pazifische Schutzgebiet des Reichs von Großbritannien anerkannt. Am 6. April 1886 legten schließlich Großbritannien und Deutschland ihre jeweiligen Interessensphären endgültig fest, wobei neben dem anerkannten Besitz von Nordost-Neuguinea, Kaiser-Wilhelms-Land genannt, und dem diesem Land vorgelagerten Archipel, der seit dem 19. Mai 1885 offiziell Bismarckarchipel hieß, die westlichen Salomoninseln mit den Eilanden Buka, Bougainville, Choiseul und Santa Isabel im deutschen Eigentum verblieben. Nach dem Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 konnte das Reich im darauf folgenden Jahr noch die Karolinen, zusammen mit den Marianen und Palauinseln, für 25 Millionen Peseten vom Verlierer Spanien erwerben.
 
Im selben Jahr kam es auch zu einer Entscheidung über Samoa. Zunächst hatten rivalisierende amerikanische, britische und deutsche Interessen das Geschehen auf dieser Inselgruppe bestimmt — eine Gemengelage, die dazu führte, dass seit 1889 die drei Mächte gemeinsam die Regierungsgewalt ausübten, wobei die Fiktion einer autonomen samoanischen Königsgewalt gewahrt blieb. Dieses Tridominium funktionierte mehr schlecht als recht bis 1899, um dann in einer deutsch-amerikanischen Interessenteilung zu enden. Während die Briten zum Ausgleich für die Aufgabe ihrer Rechte, zu der sie unter dem Druck des Burenkrieges sich bereit fanden, den größten Teil der Salomoninseln — mit Ausnahme von Bougainville und Buka — und der Tongainseln erhielten, teilten die USA und Deutschland Samoa, wobei das Reich mit Upolu und Savaii den größeren Anteil in Besitz nehmen konnte. Bereits 1897/98 hatte Deutschland schließlich noch »sein« Kolonialgebiet in OstasienKiautschou — erworben.
 
Mit den Erwerbungen der ausgehenden 1890er-Jahre in Ostasien und in der Südsee hatte das deutsche Kolonialreich — bis auf die 1911 in der 2. Marokkokrise als Kompensation zu Kamerun hinzugewonnenen Gebiete (»Neukamerun«) — seine endgültige Ausdehnung erreicht. Es umfasste 1914 etwa 2,9 Millionen km2 mit etwa 12,3 Millionen Einwohnern. Während seine Einwohnerzahl gerade mal ein knappes Fünftel derjenigen des Reiches von 64,9 Millionen betrug, übertraf das Territorium der Kolonien dasjenige des Reichs um nahezu das Sechsfache. Gleichwohl hat es an deutschen Plänen, den realen Kolonialbesitz in der Zukunft zu erweitern, nicht gefehlt. Der Schwerpunkt dieser »Kolonialprojekte« lag zweifellos in Afrika — vor allem in Marokko, im südlichen Afrika und in »Mittelafrika« —, aber auch Gebiete im Nahen Osten und in Südamerika tauchten immer wieder in den Visionen namentlich alldeutscher Kolonialträumer auf. Die offizielle Politik stand solcherart kolonialer Projektemacherei jedoch zumeist ablehnend gegenüber.
 
 »Wettlauf um Afrika«
 
Die Aufteilung Afrikas zum Ende des 19. Jahrhunderts gehört zu den spektakulärsten Ereignissen der europäischen Expansionsgeschichte. Die Bedeutung dieses Einschnitts für die afrikanischen Gesellschaften kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Mehr als 16 Millionen km2 afrikanischen Bodens und über 100 Millionen Afrikaner gelangten in etwas mehr als zwei Jahrzehnten unter europäische Herrschaft. Am 15. September 1884 verwendete die britische Tageszeitung »Times« erstmals die Formulierung »Wettlauf um Afrika« (scramble for Africa) für diesen imperialistischen Vorgang. Er war denn auch weniger eine bewaffnete Auseinandersetzung als vielmehr ein strategisches und diplomatisches Spiel, das nur gelegentlich — so in den beiden Marokkokrisen 1905/06 und 1911 — eine tatsächliche Kriegsgefahr unter den Europäern heraufbeschwor. Gelegentlich drohten auch Verschärfungen vonseiten der »Männer vor Ort« — von Militärs, Konsuln, Kolonialbeamten und selbst von Missionaren —, die ihren eigenen »Subimperialismus« betrieben und von Reichen und Reichtum träumten.
 
Ausgangssituation und Teilnehmer
 
Dass die Europäer den Kontinent so schnell aufteilen konnten, gründete nicht zuletzt in ihrem technologischen Vorsprung. Allerdings waren die Afrikaner in diesem Prozess nicht nur passive Zuschauer, sondern sie vermochten durchaus ihre Interessen durch Zusammenarbeit oder Widerstand zu artikulieren. Ihr anfänglicher »Wettlauf« um »Schutzverträge«, die sie als Handels- und Bündnisverträge interpretierten, nahm allerdings zumeist einen für sie enttäuschenden Ausgang.
 
Namentlich die Briten setzten auf die afrikanische Kooperation, da sie ohnedies die meisten der zugänglichen Regionen durch Konsuln, Händler und Missionare kontrollierten. Ende der 1870er-Jahre erfuhr die britische Oberherrschaft in Afrika, die nicht zuletzt auf der maritimen Hegemonie beruhte, jedoch eine Herausforderung durch Frankreich. Insbesondere in Westafrika gingen die Franzosen zu einer zielgerichteten Politik militärischer Eroberungen, neuer Protektorate und wirtschaftlicher Exklusivverträge über.
 
Eine Verschärfung erlebte der britisch-französische Gegensatz durch die »ägyptische Frage«, vielfach als Initialzündung des Wettlaufs angesehen. Aufgrund der ruinösen Steuer- und Finanzpolitik des Khediven, des Vizekönigs in Ägypten, hatten Franzosen und Briten in dem unter osmanischer Oberhoheit stehenden Land am Nil eine gemeinsame Staatsschuldenverwaltung eingerichtet, die jedoch durch eine nationalistische Militärrevolte unter Führung des Kriegsministers Arabi Pascha gefährdet wurde. Eine britische Flotte bombardierte daraufhin im Juli 1882 Alexandria und besetzte im September das Land. Frankreichs Einfluss wurde ausgeschaltet. Die Folge war ein verstärktes französisches Engagement auf Madagaskar, im Hinterland des Senegal, an der Westküste und am unteren Kongo. Dort hatte der Afrikaforscher Pierre Savorgnan de Brazza große Gebiete im Bereich des Ogowe erforscht und mit dem Kongohäuptling Makoko 1880 einen Vertrag geschlossen, der jedoch in Paris zunächst keine Anerkennung fand. Erst eine nationalistisch inspirierte Pressekampagne führte 1882 zur Ratifizierung und damit zur Begründung des späteren französischen Kongo.
 
Beschleunigend auf das französische Vorgehen am Kongo hatte sich das Auftauchen eines neuen Mitkonkurrenten ausgewirkt. Seit Mitte der 1870er-Jahre hatte der belgische König Leopold II. auf der Suche nach Kolonien, die seinem starken Bedürfnis nach internationaler Anerkennung und persönlichem Reichtum entgegenkam, sein Augenmerk auf Westafrika gerichtet. Seine wirklichen Ziele verbarg der Monarch vorerst noch geschickt hinter dem geographischen und wissenschaftlichen Interesse der Zeit an Afrika. Erst als sich die britische Regierung am Kongo desinteressiert zeigte und die Aufforderungen der Kongoreisenden Verney Lovett Cameron und Henry Morton Stanley zur Errichtung eines Protektorats ablehnte, griff Leopold zu und beauftragte Stanley mit der Gründung von Stationen und der wirtschaftlichen Erschließung des Kongogebiets. Im Januar 1884 gründete der belgische König den Kongo-Freistaat, der bereits im April von den USA und im November vom Deutschen Reich anerkannt wurde.
 
Mit den französischen und belgischen Aktivitäten am Kongo und im Sog des nunmehr verschärft einsetzenden Wettlaufs erinnerten sich auch Spanier und Portugiesen wieder an ihre alten Kolonien. Während die Spanier ihre Hispanisierungs- und Missionsbestrebungen in Río Muni und auf Fernando Póo verstärkten, reklamierte Portugal — über seinen unbestrittenen Besitz Angolas und Moçambiques hinaus — traditionelle Territorial- und Missionsrechte im Küstengebiet oberhalb der Mündung des Kongo sowie an seinem Unterlauf. Als es am 26. Februar 1884 zu einem britisch-portugiesischen Vertrag kam, der die portugiesischen Ansprüche gegen die belgischen und französischen Bestrebungen sichern sollte, stießen diese Abmachungen auf den gemeinsamen Protest Frankreichs Lund Deutschlands. Denn mit dem Erwerb Deutsch- Südwestafrikas sowie Togos und Kameruns pochte eine weitere europäische Macht auf ein Mitspracherecht in Afrika. Schließlich meldeten sich auch die Vereinigten Staaten zu Wort, die zwar durch ihr »Stiefkind« Liberia — 1847 offiziell als Kolonie ehemaliger amerikanischer Sklaven gegründet — eine politische Verbindung zu Afrika besaßen, die aber in erster Linie an freiem Handel und freier Mission auf dem schwarzen Kontinent interessiert waren.
 
Ein Kontinent wird aufgeteilt
 
Vom 15. November 1884 bis zum 26. Februar 1885 tagte in Berlin unter dem Vorsitz des Reichskanzlers Otto von Bismarck und unter Beteiligung von dreizehn europäischen Staaten sowie der USA und des Osmanischen Reiches die Westafrikakonferenz. Zwar bedeutete sie nicht die Teilung Afrikas im eigentlichen Sinn des Worts; denn ihre Vertreter waren zusammengekommen, um den freien Zugang für Handel und Mission in Afrika für alle Nationen vertragsmäßig festzulegen. Mit der Erklärung der Freiheit der Schifffahrt auf Kongo und Niger, der Schaffung der Freihandelszone im Kongo und der Erklärung der Missionsfreiheit in ganz Afrika erinnerte das Ergebnis der Konferenz immerhin an ihre ursprüngliche Zielsetzung. Die gleichzeitige Festlegung von Kriterien für die völkerrechtliche Anerkennung von Kolonialbesitz — als »effektive Besetzung« bezeichnet — löste jedoch einen Wettlauf um die noch nicht besetzten Gebiete sowie die definitive Abgrenzung des bisherigen Besitzstandes aus. Innerhalb weniger Jahre war Afrika bis auf Liberia und Äthiopien unter den europäischen Mächten aufgeteilt.
 
In Westafrika erhielten die Franzosen den Löwenanteil. Ostafrika blieb demgegenüber die Domäne Großbritanniens. Nachdem sich Deutschland seinen Anteil an dieser Region — Deutsch-Ostafrika mit dem heutigen Ruanda und Burundi — gesichert und Portugals Rechte in Moçambique bestätigt waren, erhielt die Verbindung zwischen Ägypten und der Kapprovinz allerdings eine erhebliche territoriale Unterbrechung. Kenia wurde zur klassischen Siedlungskolonie innerhalb des britischen Empire, während sich der Konflikt um das ostafrikanische Hinterland noch einige Zeit hinzog. Am Horn von Afrika ergab sich eine Gemengelage von britischen, französischen und italienischen Kolonien, wobei einzig die Italiener 1896 bei Adua eine vernichtende Niederlage gegen die Äthiopier erlitten, sodass das Kaiserreich erst durch Benito Mussolinis brutalen Überfall im Jahre 1935 vorübergehend Kolonie wurde. Während der Balkankriege 1912/13 besetzten die Italiener gegen den heftigen Widerstand des Ordens der Senussi Libyen.
 
In Südafrika hatten Briten und Buren in den Konventionen von Pretoria 1881 und London 1884 eine Art Ausgleich zwischen den britischen Besitzungen am Kap und in Natal, dem burischen Oranje- Freistaat und den Burenrepubliken zwischen Vaal und Limpopo erreicht. Nachdem die Briten als Folge der Entdeckung von Diamanten in Kimberley bereits West-Griqualand annektiert und der Kapprovinz eingegliedert sowie einem deutschen Vordringen von Südwestafrika aus durch die Annexion Betschuanalands, des heutigen Botswana, 1885 einen Riegel vorgeschoben hatten, richteten sich nach dem Beginn des Goldbergbaus am Witwatersrand bei Johannesburg seit 1886 ihre Begehrlichkeiten auf Transvaal; zog dieser Burenstaat aufgrund seines Reichtums und seiner Infrastrukturmaßnahmen doch zunehmend ausländische Investitionen — darunter auch aus Deutschland — an.
 
Daraufhin erhielt 1889 die British South Africa Company von Cecil Rhodes eine königliche Charter zur Sicherung des Gebietes nördlich und westlich von Transvaal. Schließlich ließ sich der Gold- und Diamantenmagnat, seit 1890 auch Premier der Kapprovinz, 1896 zur Unterstützung eines bewaffneten Einfalls von Kompaniepolizisten nach Transvaal — nach deren Anführer Leander Jameson Jameson Raid genannt — hinreißen, dessen Scheitern seine politische Karriere beendete. Inzwischen hatte Rhodes jedoch für das britische Weltreich ein Territorium im südlichen Afrika erobert, das die heutigen Staaten Botswana, Simbabwe, Sambia und Malawi umfasste und das sich über etwa 2 Millionen km2 erstreckte. Sein Traumziel einer Eisenbahn- und Telegrafenverbindung vom Kap bis Kairo, die den gesamten Kontinent auf britisch beeinflusstem Gebiet durchquerte, vermochte er zwar nicht zu realisieren. Dafür erlebte er aber noch den Burenkrieg (1899—1902), der mit der Annexion Transvaals und des Oranje-Freistaats endete. Die Burenstaaten wurden britische Kronkolonien. Mit der Gründung der Südafrikanischen Union 1910 und der verwaltungsmäßigen Angliederung von Basutoland — dem heutigen Lesotho —, Swasiland und Betschuanaland begann der Ausgleich von Buren und Briten, der allerdings auf Kosten der Nichtweißen erzielt wurde. Seit 1911 erfolgte die erste Welle rassendiskriminierender Apartheidsgesetze.
 
Koloniale Herrschaft
 
Ohnehin war von den hehren Zielen, die die Delegierten in der Präambel der abschließenden Generalakte der Berliner Westafrikakonferenz formuliert hatten, nämlich der Betonung des Zivilisationsauftrags und der Verbesserung der, wie es wörtlich hieß, »sittlichen und materiellen Wohlfahrt der eingeborenen Völkerschaften«, nicht viel übrig geblieben. Bereits auf der Konferenz — zu der kein afrikanischer Vertreter eingeladen worden war — hatte man die Problematik der Souveränitätsrechte afrikanischer Staatswesen schlichtweg übergangen. In kolonialdiplomatischer Willkür legten die europäischen Mächte künftig wie mit dem Lineal gezogene Demarkationslinien in Afrika fest, sodass die Grenzen oft quer durch die Lebensräume einheimischer Ethnien verliefen.
 
Was für die Staaten der Afrikaner galt, nämlich nur als Völkerrechtsobjekte betrachtet zu werden, galt gleicherweise für ihr Land. Nach europäischem Rechtsverständnis und in eigenartigem Widerspruch zu den ursprünglichen Verträgen wurde es als »herrenloses Land« (terra nullius) betrachtet, das nunmehr als »Kronland« bzw. Eigentum europäischer Staaten an Kolonialgesellschaften, Konzessionäre und Siedler vergeben werden konnte. Schrittweise erfolgte die Verdrängung der Afrikaner aus ihren Wohngebieten bis hin zur Eingrenzung in Reservationen.
 
Was für die Staaten und das Land der Afrikaner galt, das galt schließlich auch für sie selbst. Sogar die Frage, ob sie überhaupt Menschen seien, haben Rassisten verneint. Aber auch diejenigen Weißen, die den Zivilisationsauftrag des weißen Mannes ernst nahmen, gingen in ihrer paternalistischen Sicht davon aus, dass die ursprünglichen Bewohner die Hauptlast der Arbeit zu tragen hätten und in diesem Sinne zu »erziehen« seien. »Erziehung zur Arbeit« lautete daher der Grundsatz europäischer Kolonialideologie und Kolonialherrschaft in Afrika, sodass nach dem allmählichen Ende der Sklaverei die Suche nach einem effektiven Zwang zur Arbeit das vorrangige Ziel praktischer Kolonisation darstellte.
 
Die erste Umsetzung dieser Politik bildete die Einführung von Hütten- und Kopfsteuern, die anfangs in Naturalien, später in Geld oder Arbeit erbracht werden konnten. Nahezu alle europäischen Kolonien haben sich dieser Form des indirekten Zwangs bedient. Die meisten Kolonien haben überdies Afrikaner zu direkter Zwangsarbeit herangezogen, sei es für öffentliche Arbeiten wie den Wege- und Eisenbahnbau und andere infrastrukturelle Maßnahmen, sei es für private Arbeitgeber auf den Plantagen und Farmen. Nachweise verschiedener Art sorgten für die Kontrolle der geleisteten Arbeit, die zwischen mehreren Tagen und — wie in den portugiesischen Kolonien seit 1899 — einem halben Jahr betragen konnte. Namentlich die großen Konzessions- und Spekulationsgesellschaften haben durch eine rigide Enteignungspolitik und ein brutales Zwangsrekrutierungs- und Arbeitssystem den Tod vieler Afrikaner in Kauf genommen. Ein besonders menschenverachtendes Ausbeutungssystem herrschte im leopoldinischen Kongo: Dort wurde die Nichterfüllung der geforderten Kautschukquoten mit der Verstümmelung der Afrikaner bestraft. Missionare und Schriftsteller haben nach der Jahrhundertwende die »Kongogräuel« öffentlich angeprangert, sodass der belgische Staat 1908 die Privatkolonie des Königs übernehmen musste. Außerdem entwickelte sich in den industriewirtschaftlichen Regionen ein teilweise forciertes Wanderarbeitersystem mit allen seinen sozialen und menschlichen Problemen.
 
Nur selten schritten die Kolonialregierungen vor dem Ersten Weltkrieg gegen das Zwangsarbeitssystem und andere Kolonialübel ein. Allerdings gab es beträchtliche regionale Unterschiede. Dabei spielte der tatsächliche verwaltungsmäßige Zugriff eine entscheidendere Rolle als der formelle Status der Kolonie, das heißt ihr Status als Kronkolonie, Protektorat oder Schutzgebiet. Eine indirekt-informelle Herrschaftsform — wie sie die Briten bevorzugten — sicherte den einheimischen Regenten einen beträchtlichen Spielraum, der nur durch die Anerkennung der weißen Oberherrschaft und die Zahlung festgelegter Abgaben begrenzt war. In den Gebieten direkt-formeller Herrschaft waren die kolonialen Untertanen dagegen dem ständigen repressiven Zugriff vonseiten der Kolonialverwaltung ausgesetzt. Die Möglichkeiten eines sozialen Aufstiegs in der kolonialen Situation endeten in der Regel an der »Farbgrenze« (colour bar). Nur eine verschwindende Minderheit, ausgezeichnet durch Bildung, Christianisierung und wirtschaftlichen Einfluss — wie die »Kulturfranzosen« oder die assimilados in den portugiesischen Kolonien — vermochte sich in der herrschenden Schicht zu etablieren.
 
Beträchtliche Unterschiede gab es auch zwischen Siedlungs- und Handelskolonien. Während in Handelskolonien wie zum Beispiel Togo die einheimischen Produzenten ein wichtiges Kapital für das Prosperieren der Kolonie darstellten und Aufstände eher selten waren, brachten Siedlungskolonien wie beispielsweise im südlichen Afrika oder Algerien eine besonders aggressiv-rassistische Form des Kolonialismus hervor; denn entweder wurden die ursprünglichen Bewohner verdrängt oder zu »Arbeitssklaven« degradiert. Eine reine Beutewirtschaft betrieben anfangs auch die mit hoheitlichen Rechten ausgestatteten Kolonialgesellschaften. Erst spät griff der Kolonialstaat hier regulierend ein. Entscheidend war aber auch für ihn der Bedarf der Metropole und der verordnete Anbau von Produkten für den Weltmarkt (cash crops). Diese weitgehende Ausrichtung auf Monopolkulturen und der ebenso einseitige Aufbau der kolonialen Infrastruktur hat zweifellos zu Subsistenz- und Strukturproblemen des nachkolonialen Staates geführt.
 
Schließlich bildete auch die christliche Mission einen integralen Bestandteil des Kolonialismus; ist doch Afrika im Gefolge der europäischen Expansion ein weitgehend christlicher Kontinent geworden. Ein unduldsamer Kulturimperialismus, der auf traditionelle Einrichtungen wie zum Beispiel die »Vielweiberei« nur wenig Rücksicht nahm, und die Sanktionierung der Kolonialideologie waren Teil der »spirituellen Eroberung« des Kontinents. Der Einbruch des Christentums stellte daher die wohl größte Revolution in den Lebensgewohnheiten sowie den Denk- und Wertvorstellungen der Afrikaner dar, soweit sie nicht im Islam oder in tradi- tionellen religiösen Vorstellungen verhaftet waren und blieben. Andererseits schufen soziale Einrichtungen wie das von den Missionaren nahezu völlig beherrschte Schulsystem nicht nur Möglichkeiten sozialer Mobilität in der kolonialen Gesellschaft, sondern sie lösten durch die umfassende Verbreitung der christlichen Lehre einen religiös-naturrechtlich begründeten Freiheits- und Emanzipationsdrang bei den von ihnen ausgebildeten Bevölkerungsschichten aus, der in der Phase der Entkolonisierung die Entstehung nationalistischer Gruppen und Bewegungen förderte.
 
Prof. Dr. Horst Gründer
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Imperialismus: Kulturelle Mission oder Platz an der Sonne
 
 
Albertini, Rudolf von: Europäische Kolonialherrschaft. 1880-1940. Stuttgart 41997.
 Aldrich, Robert: Greater France. A history of French overseas expansion. 1996. Basingstoke
 
Bismarck, Europe, and Africa. The Berlin Africa Conference 1884-1885 and the onset of partition, herausgegeben von Stig Förster u. a. Oxford u. a. 1988.
 Gründer, Horst: Geschichte der deutschen Kolonien. Paderborn u. a. 31995.
 Guillen, Pierre: L'expansion 1881-1898. Paris 1985.
 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918, Band 2: Machtstaat vor der Demokratie. Sonderausgabe München 1998.
 Pakenham, Thomas: Der kauernde Löwe. Die Kolonialisierung Afrikas 1876-1912. Aus dem Englischen. Düsseldorf u. a. 21994.
 Reinhard, Wolfgang: Geschichte der europäischen Expansion, Band 4: Dritte Welt Afrika. Stuttgart u. a. 1990.
 Robinson, Ronald u. a.: Africa and the Victorians. The official mind of Imperialism. London u. a. 21983.
 Stürmer, Michael: Das ruhelose Reich. Deutschland 1866-1918. Taschenbuchausgabe Berlin u. a. 1998.

Universal-Lexikon. 2012.

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